Erinnerungen an den Rechtsstaat

Aus: MUT 47. Jg. (2022), Nr. 535, S. 16 – 27

Wer an den Rechtsstaat erinnert, löst unterschiedliche Assoziationen aus; denn das Wort „erinnern“ kann mehreres bedeuten. Einmal, daß man auf etwas Gegenwärtiges hinweist, sodann aber, daß man etwas Vergangenes ins Bewußtsein ruft. Ich habe im folgenden beides im Sinn: zu zeigen, was der Kern des Rechtsstaats ist, und ins Gedächtnis zu rufen, wieviel an rechtsstaatlicher Substanz bereits verloren gegangen ist.

1. Begrenzung des Steuerungspotentials der Politik

Die Ansichten darüber, was alles zum Begriff des Rechtsstaats gehört, gehen bekanntlich auseinander. Einigkeit jedoch herrscht darüber, daß seine Aufgabe darin besteht, der Politik rechtliche Grenzen zu setzen. Das erscheint aus der Sicht des Bürgers dringend geboten; denn Politik ist nichts anderes als die Kunst, das Verhalten der Menschen im großen Stil zu lenken. Allzu großes Vertrauen ist insoweit nicht angebracht, Kontrolle schon eher. Auch wenn alle Politiker nur achtenswerte Ziele hätten, so würden allein schon die Mittel, die ihnen dafür zur Verfügung stehen, eine besondere Wachsamkeit nahelegen. Mit geeigneten Mitteln lassen sich nämlich auch Ziele verwirklichen, zu denen sich kein Politiker je offen bekennen würde.

Um zu verstehen, worum es in der Politik geht und was der Rechtsstaat in diesem Zusammenhang bewirken soll, muß man lediglich fragen, wie man andere Menschen überhaupt in eine bestimmte Richtung dirigieren kann. Technisch gesehen kommen dafür zwei Wege in Betracht: Man kann auf ihr äußeres Tun und Lassen, aber auch auf ihr Denken, Meinen und Glauben Einfluß nehmen. Selbstverständlich kann man auch beides zugleich versuchen. Wer die Möglichkeit dazu hat, wird sich die Gelegenheit kaum entgehen lassen.

Nehmen wir nur die Erziehung. Sie beginnt mit einfachen Verhaltensanweisungen wie: „Laß das liegen!“, „Heb’ das auf!“, richtet sich in der Folge zusätzlich auf das Sprachverhalten: „Dies sagt man so, jenes so und anderes gar nicht“, und wendet sich schließlich der Kultivierung der inneren Einstellung zu: „Gott hat man zu verehren, die Eltern mit Respekt zu behandeln, das Eigentum anderer zu achten“ usw.

Auch die Politik zielt von Haus aus auf den ganzen Menschen. Mit Hilfe des Rechts steuert sie zunächst das äußere Tun und Lassen. Aus der Sicht eines Politikers ist das Recht nichts anderes als ein Instrument der Verhaltenslenkung, das auf zwangsweise Durchsetzung angelegt ist. Beim Strafrecht ist das evident. Aber auch das Privatrecht wird heute zunehmend mit Ge- und Verboten durchsetzt. An marktregulierten Selbststeuerungsprozessen haben Politiker meist wenig Interesse. Sie wollen lieber in eigener Person steuern und schaffen zu diesem Zweck immer neue Eingriffsbefugnisse in Form von Gesetzen.

Darüber hinaus wollen Politiker in der Regel aber auch das Denken, Meinen und Glauben der Menschen, deren innere Einstellung, ihre Wertpräferenzen, ihr Urteil über gut und böse bestimmen. Mit dieser Feststellung stößt man vielleicht auf Widerspruch. Denn im akademischen Diskurs wird nichts nachdrücklicher behauptet, als daß im Rechtsstaat das Denken, Meinen und Glauben freibleibe. Der Idee nach ist das sicher richtig. In der Realität allerdings findet sich eine solche Zurückhaltung eher selten. Die meisten Gesellschaften waren und sind gerade nicht rechtsstaatlich organisiert, ihre Führungseliten hatten und haben keine Probleme damit, offen „Meinungspflege“ zu betreiben. Zu meinen, daß das Personal in Rechtsstaaten grundsätzlich anders beschaffen sei, ist ein Irrtum. Ebenso ist es eine Illusion, anzunehmen, daß die Denk- und Meinungsfreiheit hier ein für allemal gesichert sei. Die machtpolitische Versuchung, auch die Gesinnung der Menschen zu steuern, verschwindet nicht dadurch aus der Welt, daß man die Meinungsfreiheit in die Verfassung schreibt. Der Rechtsstaat ist daher ein fragiles Konstrukt, und am meisten da, wo man vergißt, was für ein seltener Glücksfall er ist.

Bevor ich mich der Frage zuwende, wie es sich damit gegenwärtig verhält, möchte ich zwecks Vorklärung zwei Exkurse einschieben. Zunächst werde ich den Blick auf den historischen „Normalfall“ richten, in dem rechtsstaatliche Schranken fehlen. Im Anschluß daran werde ich die Entwicklung skizzieren, welcher der moderne Rechtsstaat seine Entstehung verdankt.

2. Trennung von Staat und Religion

Was den ersten Punkt betrifft, so stelle ich wiederum eine „technische“ Frage an den Anfang: Was ist eigentlich die Voraussetzung dafür, daß die Politik sich von der Reglementierung des Denkens fernhält? In historischer Sicht nichts anderes als die Trennung von Staat und Religion. Denn Religion, verstanden als Überzeugung von den sinnstiftenden großen Ideen, ist ein Agens, mit dessen Hilfe sich der innere Kompaß der meisten nachhaltig beeinflussen läßt. Wo der Staat zugleich für die Religion zuständig ist, bleibt der Einzelne auch in seinem Innersten in politisch kontrollierte Vorgaben eingebunden. Das ist freilich der Regelfall: die meisten Staaten waren Glaubensstaaten und die großen Religionen meist Staatsreligionen. Dementsprechend war die Zugehörigkeit zum Staat aufs engste mit dem Bekenntnis zu einer Religion verknüpft. Dazu einige Beispiele:

Das bekannteste ist das Judentum, in dem Rechts- und Glaubensverfassung untrennbar miteinander verwoben sind. Man hat das Judentum eine Gesetzesreligion genannt: An der Spitze stehen 10 göttliche Gebote, aus denen im Talmud, vermittelt durch die Thora, Tausende von Ge- und Verboten abgeleitet werden, die sich auf alle Lebensbereiche erstrecken. Da letztlich alle göttlichen Ursprungs sind, kann man sie nicht für obsolet erklären, sondern nur interpretieren. Alles Denken ist auf diese Weise eingebunden in ein Geflecht von Vorgaben, dem man sich nicht entziehen kann.

Auch dem Islam ist die Trennung von Recht und Religion fremd. Die Rechtsgemeinschaft ist zugleich die Gemeinschaft der gläubigen Muslime. Der Koran, der die Grundlagen sowohl des Glaubens wie auch des Rechts enthält, gilt unmittelbar als Wort Allahs und muß daher ohne Wenn und Aber akzeptiert werden. Ein Abfall vom Islam stellt ein Kapitaldelikt dar. Das ist mit einem Staat der Glaubensfreiheit so wenig vereinbar wie mit einer Demokratie, dies jedenfalls dann, wenn man darunter eine Staatsform versteht, deren raison d’être die permanente Opposition ist. Bisher hat auch noch niemand zu erklären vermocht, wie man sich in einer homogenen Glaubensgemeinschaft einklagbare Freiheitsrechte gegenüber der Mehrheit vorstellen soll. Unter dem Islam hat deshalb der demokratische Rechtsstaat nirgends Fuß gefaßt.

Im Christentum ist zwar die Unterscheidung von weltlicher und geistlicher Sphäre angelegt. Aber auch das Christentum wurde schon früh zur Staatsreligion erhoben. Gebietseroberungen christlicher Herrscher waren nicht selten mit Zwangsbekehrungen verbunden. Vom 13. Jahrhundert an bedrohte die Inquisition jeden Abweichler mit der Todesstrafe. Nach der Reformation begnügte man sich meist damit, die Anhänger einer anderen christlichen Religion zu vertreiben und damit ihre soziale Existenz zu ruinieren. Von Glaubens- und Meinungsfreiheit konnte auch hier nicht die Rede sein.

Doch jetzt zu den Säkularreligionen, die vielfach an die Stelle der alten Religionen getreten sind. Der Kommunismus setzte an die Stelle des überkommenen Glaubens eine Ersatzreligion, die ebenfalls als Steuerungs- und Disziplinierungsinstrument benutzt wurde. In politischer Hinsicht besteht der Unterschied hauptsächlich darin, daß die alten Religionen auf die Bewahrung der tradierten Ordnungen und Werte angelegt waren, während die modernen Sozialreligionen auf Veränderung aus sind. Die Geschichte der kommunistischen Bewegung zeigt, daß man auch hier ständig auf der Suche nach Abweichlern war. Der Zusammenhalt wurde hergestellt durch erzwungene Lippenbekenntnisse, deren Verweigerung nicht selten das Todesurteil nach sich zog. Denn auch die kommunistischen Führer waren wenig geneigt, auf die Lenkung des Denkens in ihrem Sinn zu verzichten.

Genauso wenig taten dies die Protagonisten des Nationalsozialismus. Dieser war nicht anders als der Kommunismus ein umfassendes Erziehungs- und Umerziehungsprojekt zum Zweck radikaler Gesellschaftsveränderung. Von jung an wurden die Menschen in staatliche oder halbstaatliche Kollektive eingeordnet, wo sie einer ideologischen Beeinflussung ausgesetzt waren. Alles war auf die Gleichschaltung des Denkens ausgerichtet. Die Moral hatte der Parteilinie zu folgen, ebenso wie das Recht auch. Recht und Ideologie waren die beiden Mittel, mit denen die Staatsführung das Volk auf Linie brachte.

In demselben Stil ging es in der Folge in der DDR weiter. Zwar hieß die maßgebende Sozialreligion jetzt Sozialismus und nicht mehr Nationalsozialismus. Aber das Ziel der totalitären Vereinnahmung blieb unverändert. Die Menschen wurden nach wie vor in Kollektiven gleichgeschaltet, in den Medien nur selektiv informiert, auf staatlich verordnete Freund- und Feindbilder eingeschworen und bei allen Lebensäußerungen bis hinein in den privatesten Bereich kontrolliert und beobachtet. Als es 1990 zur Wiedervereinigung kam, war vielen im Westen nicht bewußt, daß ihre Landsleute jenseits der „innerdeutschen Grenze“ seit 57 Jahren ununterbrochen in totalitären Diktaturen gelebt hatten. Es gab also nur noch wenige, die aus eigener Erfahrung wußten, was ein demokratischer Rechtsstaat ist. Wohl aber war die Nomenklatura noch da, die über Spezialkenntnisse darüber verfügte, wie man eine totalitäre Gesellschaft organisiert, und durfte es erleben, daß ihr die Tür für einen zweiten Versuch geöffnet wurde.

3. Die Entstehung des säkularen Staates in Europa
Der Eifer des Westens, die Sozialistische Einheitspartei am Leben zu halten, dürfte damit zusammenhängen, daß man auch hierzulande nicht mehr wußte, was genau ein demokratischer Rechtsstaat ist, wie sehr es sich dabei um einen Glücksfall handelt und wie leicht dieses Glück verspielt werden kann. Wie sollte man auch? Wer die Menschen professionell lenken will, wird sich meist für andere Dinge interessieren als für die Freiheit des Bürgers von staatlicher Herrschaft. Das Interesse an politischer Steuerung macht gegenüber totalitären Versuchungen und Gefahren unweigerlich blind. Daß in der Vergangenheit in Europa gleichwohl ein System entstanden ist, das die Rechte des Bürgers in den Mittelpunkt stellt, verdankt sich dem mehr oder weniger zufälligen Zusammenwirken von Umständen, die sich kaum wiederholen lassen.

Richten wir den Blick abermals einen Moment zurück: Der erste Schritt erfolgte bereits in den Auseinandersetzungen zwischen Kaiser und Papst im hohen Mittelalter. Hier wurde erstmals offenbar, daß Weltliches und Geistliches verschiedene Sphären waren, die miteinander in Konflikt geraten konnten. Zu Beginn der Neuzeit führte die Reformation auch noch zur Spaltung des christlichen Glaubens selbst. Infolgedessen konnte das Deutsche Reich die Glaubenswahrheit nicht mehr verbürgen und mußte sich auf die Organisation des Rechts, also der äußeren Ordnung, zurückziehen. In den partikularen Territorien blieb die Verschränkung von Recht und Religion zwar erhalten. Wer sich zur Landesreligion nicht bekannte, mußte – und durfte – emigrieren. Aber das Reich selbst war damit im Ansatz pluralistisch organisiert.

In einigen Territorien ging die Entwicklung zum säkularen Staat weiter. In Preußen war das Herrscherhaus zum Kalvinismus konvertiert, während die Bevölkerung lutherisch geblieben war. Katholische Landesteile waren hinzugekommen, der Bevölkerungsanteil der Juden war relativ hoch. Um den Zusammenhalt nicht zu gefährden, mußte sich der preußische Staat aus der Reglementierung des Glaubens zurückziehen. Das ist der reale Hintergrund des berühmten Diktums: „In meinem Staate kann jeder nach seiner Façon selig werden.“ Friedrich der Große war weit davon entfernt, den Anspruch auf Lenkung des Verhaltens seiner Untertanen aufzugeben. Aber – und das war das Neue – er war bereit, auf die Gängelung ihres Denkens zu verzichten. Kant hat diese Einstellung auf die sarkastische Formel gebracht: „Räsoniert, soviel ihr wollt und worüber ihr wollt; aber gehorcht.“

Natürlich kam dieser Schritt nicht von ungefähr. Er war durch die Aufklärungsphilosophie vorbereitet und grundlegend durchdacht worden. Mit dem Autoritätsverlust der überkommenen Mächte war eine neue Macht in den Blick getreten: das sich selbst bestimmende Subjekt, und an die Stelle der überlieferten Autoritäten hatte sich ein neues Prinzip geltend gemacht: die Vernunft. Beides zusammen verband sich zu einer Theorie, die auf die Befreiung des Denkens und Glaubens von den tradierten Schranken gerichtet war. Das 18. Jahrhundert wurde geradezu zu einem Jahrhundert der Denkfreiheit. Kant gab die Losung aus: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Dem entsprach es, daß der Staat nur noch für die Ordnung der äußeren Verhältnisse zuständig sein sollte. Seinen begrifflichen Ausdruck fand dies darin, daß zwischen Recht und Moral strikt unterschieden wurde: Das Recht als das Mittel zur Verhaltenssteuerung sollte in der Hand des Staates verbleiben; aber die Moral als Mittel zur Innensteuerung wurde in die Hand der Bürger gelegt. Öffentliche und private Sphäre wurden scharf voneinander abgegrenzt, und eben dies wurde als die Grundlage einer freiheitlichen Ordnung verstanden.

Der liberale Rechtsstaat ist also keineswegs mit der Demokratie identisch. Diese hat eher die Funktion, den Rechtsstaat vor dem Zugriff einer allzu machtbesessenen Elite zu sichern. Unglücklicherweise gehen von der Demokratie aber ebenfalls Gefahren für den Rechtsstaat aus. Es bedarf keines besonderen Scharfsinns, um diese zu identfizieren: Der Wunsch der großen Masse, an das Geld ihrer vermögenderen Mitbürger heranzukommen, hat aus dem liberalen Rechtsstaat, dessen Aufgabe es war, Freiheit und Eigentum zu bewahren, einen auf Umverteilung angelegten sozialen Rechtsstaat gemacht. In unseren Tagen führt der sentimentale „Brei des Herzens, der Freundschaft und der Begeisterung“, vor dem bereits Hegel warnte, dazu, daß der soziale Rechtsstaat zu einer Art moralischen Rechtsstaat umgebaut wird. Im Zuge dieser Entwicklung werden der Politik genau die Steuerungsmittel zurückgegeben, die ihr der Rechtsstaat an sich vorenthalten sollte. Dem Rechtsstaat selbst aber wird dabei unauffällig die Substanz entzogen.

4. Der moralische Rechtsstaat der Gegenwart

Die Anfänge dieses Prozesses lassen sich bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückverfolgen. Die Gesellschaft geriet damals in eine Krise, die in der sog. Studentenbewegung ihren Ausdruck fand. Diese war ursprünglich ein Generationenkonflikt, wie er sich in Abständen immer wieder ereignet. Die Kritik, welche die rebellische Jugend an den damaligen Verhältnissen übte, war maßlos überzogen, wenn auch einiges berechtigt gewesen sein mag. Eindeutig falsch war indessen die Schlußfolgerung, die man daraus zog. Man meinte nämlich, daß man sich bei der Verfolgung der „richtigen“ politischen Ziele über das Recht hinwegsetzen dürfe, weil der gute Zweck die weniger guten Mittel rechtfertige. Letztlich hieß dies nichts anderes, als daß es in der Politik nur darauf ankomme, ob man auf seiten der Guten oder der Bösen stehe, ob man Freund sei oder Feind.

Was als „gut“ zu erstreben und als „schlecht“ zu verwerfen war, machte den Akteuren die geringsten Schwierigkeiten; denn fraglos gut war selbstverständlich die eigene Meinung der neuen Tugendwächter, schlecht und verwerflich die ihrer Gegner. Da die Vorreiter dieses Trends sich als „links“ verstanden, wurden „linke“ Gesinnungen mit dem Signum des moralisch Guten, „rechte“ dagegen mit dem Kainszeichen des Bösen versehen. Wer „links“ war, sollte alles Recht haben, die „Rechten“ zu bekämpfen; wer „rechts“ stand, sollte möglichst überhaupt keine Rechte haben. Denn „rechts“, so wurde in der Folge lauthals verkündet, sei „keine Meinung, sondern ein Verbrechen“. Je mehr diese Auffassung um sich griff, desto mehr wurde der Bereich der mißbilligten Ansichten auf alles ausgedehnt, was nicht explizit „links“ war.

Die neuen Gesinnungswächter drangen schnell in alle gesellschaftlich relevanten Institutionen ein: in Schulen und Hochschulen, Gewerkschaften, Print- und Bildmedien, in Kirchen, Parteien usw. Man mußte sich daher zunehmend hüten, so zu reden, wie man dachte – jedenfalls dann, wenn man anders dachte als die andern. Ohne dass man wusste, wie und warum, kamen ungeschriebene Listen von Meinungen auf, die man nicht äußern, und von Begriffen, die man nicht benutzen durfte. Umgekehrt gab es Wörter und Wendungen, die man demonstrativ verwenden sollte, um seine korrekte Gesinnung zu bekunden. An sich gibt es solche Sprachregelungen in allen Gesellschaften, besonders jedoch in totalitären. Da die meisten Menschen eine Diskrepanz von Reden und Denken nicht lange aushalten, geben sie früher oder später den inneren Widerstand auf und denken so, wie man sie zu reden nötigt. Herrschaft über die Sprache ist daher gleichbedeutend mit Herrschaft über das Denken.

Die Politik ließ sich die Möglichkeit, mit Hilfe der „Political Correctness“ die Herrschaft über die Köpfe der Bürger zurückzugewinnen, nicht lange entgehen. Seit den 90er Jahren wird in Deutschland zunehmend mit Hilfe einer verordneten Sozialmoral Politik gemacht. Ende 2000 z.B. rief der damalige Bundeskanzler allen Ernstes zu einem „Aufstand der Anständigen“ auf, der sich vordergründig gegen Rechtskriminelle, in Wahrheit jedoch gegen die Restbestände des konservativen Bürgertums richtete. Als im Jahr darauf in Österreich eine mißliebige Partei in die Regierung kam, wurden österreichische Politiker von den Nachbarstaaten wie Aussätzige behandelt. Im Jahr 2011 wurde Ungarn aus ähnlichem Anlaß auf politische Quarantäne gelegt. Längst auch wird der Verfassungsschutz, der an sich dem Erhalt der rechtsstaatlichen Ordnung dienen sollte, zur Verfolgung politischer Gegner eingesetzt. Dafür genügt es bereits, daß publikumswirksam bekannt gemacht wird, bestimmte Zeitungen, Verlage oder Vereinigungen würden vom Verfassungsschutz „beobachtet“. Schon dadurch werden die Betreffenden schwer geschädigt. Denn wer vom Verfassungsschutz beobachtet wird, muß mit der Kündigung von Abonnements und Mitgliedschaften rechnen, er kann keine Annoncen mehr schalten und erhält auch seinerseits keine Annoncenangebote mehr, Manuskripte bleiben aus, weil die Autoren fürchten müssen, selbst ins Schußfeld zu geraten usw.

Das alles ist politisch gewollt. Davon kann man sich durch einen Blick in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz leicht überzeugen. Dieses Gesetz reichert das Privatrecht mit hochmoralischen Prinzipien an – allerdings nur zugunsten bestimmter Bevölkerungsgruppen, während andere das Nachsehen haben. So dürfen Vertragspartner nicht benachteiligt werden wegen Rasse und Herkunft, wegen Geschlecht und sexueller Identität, auch nicht wegen der Religion – wohl aber wegen der „Weltanschauung“, d.h. wegen der politischen Überzeugung. Wer politisch nicht so denkt, wie es die modernen Gesinnungswächter für allein richtig halten, dem sollen Girokonten, Saalmieten, Hotelbuchungen, Druck- und Beförderungsaufträge u.ä.m. verweigert werden dürfen. Wer nicht so denkt, wie es höheren Orts gewünscht wird, soll sanktioniert werden dürfen bis hin zur Existenzvernichtung. Das ist geltendes Recht in Deutschland.

5. Wer braucht den Rechtsstaat und wer nicht?
Die Bedeutung dieses auf Samtpfoten daherkommenden Verfassungswandels zeigt sich nur, wenn man etwas weiter ausholt. Deshalb noch einmal: Der freiheitliche Rechtsstaat ist nicht die Regel, sondern die Ausnahme. Von Haus aus träumen alle Politiker davon, die Masse zu kneten wie ein Bäcker den Teig. Die Vorstellung, daß der Einzelne berechtigt sei, über sein Innerstes selbst zu bestimmen, und daß jeder Versuch, ihn hieran zu hindern, eine Verletzung grundlegender Rechte darstelle, war bisher auf wenige Inseln der politischen Welt beschränkt. Seinen überzeugendsten Ausdruck hat dieser Gedanke im demokratischen Rechtsstaat gefunden. Dieser versucht gewissermaßen die Quadratur des Kreises. Denn das rechtsstaatliche Moment bezieht sich dabei auf das Prinzip der individuellen Selbstbestimmung, auf die Privatautonomie, das demokratische auf die kollektive Selbstbestimmung. Dem entspricht eine Trennung der Verantwortungsbereiche dergestalt, daß die Politik allein für die Sicherstellung der gemeinsamen äußeren Existenz zuständig sein soll, während die Gestaltung des individuellen Lebens, u.a. des Denkens, Meinens und Glaubens, Sache des Einzelnen bleibt.

Der moralische Rechtsstaat, wie er derzeit im Entstehen begriffen ist, akzeptiert diese Trennung in wichtigen Bereichen nicht mehr, sondern versucht die Moral der herrschenden Cliquen für alle verbindlich zu machen. Infolgedessen ist der Bürger in wesentlichen Politikfeldern mit einem Einheitsdenken konfrontiert, dem er nicht wirksam entgegentreten kann. Die Politik fördert und finanziert heute zahllose Institutionen, Projekte und Netzwerke, die vermeintlich richtige Gesinnungen unterstützen und falsche bekämpfen sollen. Das alles geschieht zwar im Zeichen der Toleranz und des inneren Friedens. Ziel ist jedoch die Brandmarkung des politischen Gegners und seine gesellschaftliche Liquidierung. In Diktaturen bedient man sich für diese Zwecke informeller Mitarbeiter und sonstiger Spitzel. Im moralischen Rechtsstaat aber soll buchstäblich jeder zum Gesinnungswächter des anderen gemacht werden, noch dazu vor aller Augen. Wir sind gegenwärtig im Begriff, die offene Denunziation zum Volkssport zu erheben, und alle, die etwas zu sagen haben, finden das offenbar gut so. Im Bewußtsein, auf der richtigen Seite zu stehen, glaubt man sich Praktiken leisten zu können, die der Rechtsstaat eigentlich verhindern sollte.

Was soll man von all dem halten? Wie soll man sich dazu stellen? Ein Geisteswissenschaftler wird wahrscheinlich versuchen, die in Gang befindlichen Veränderungen zu verstehen. Dann zeigt sich, daß der Rechtsstaat dabei ist, zur Fassade zu werden. Vordergründig betrachtet, scheint alles in Ordnung zu sein. Tatsächlich jedoch ist das Recht auf Meinungsfreiheit nur noch in den Grenzen einer politisch kontrollierten und gesteuerten Sozialmoral gewährleistet. Eine solche Gesinnungsgemeinschaft war so ziemlich das Letzte, was die Wegbereiter des Rechtsstaats vor Augen hatten. Ein Realwissenschaftler wird eher versuchen, diese Veränderung zu erklären. Dazu muß man nur die Frage stellen, wer den Rechtsstaat braucht und wer nicht. Am Rechtsstaat sind nur solche Bürger interessiert, die ihres eigenen Lebens Schmied sein wollen und die dazu u.a. Rechte benötigen, die sie vor dem totalitären Zugriff selbsternannter Weltverbesserer schützen. Nicht am Rechtsstaat interessiert sind Politiker, die ihre Ziele nur gegen die Intentionen solcher Bürger realisieren können. Wenn sie mit ihren Plänen vorankommen wollen, müssen sie den Rechtsstaat, wo er ihnen hinderlich wird, zurückbauen.

Einen Rückbau erleidet zur Zeit nicht nur der Rechtsstaat, sondern auch die Demokratie. Die repräsentative Demokratie verdankt ihre Entstehung der Intention, eine gewählte Führungselite kontrollieren und notfalls entmachten zu können. Wo sich das Volk den Zielen einer ambitionierten Elite als hinderlich erweist, kann diese jedoch den Spieß umdrehen und das Volk auf einem Schleichweg politisch entmachten. Dieser Prozeß ist längst in vollem Gang. Nimmt man beides, die Pervertierung des Rechtsstaats und die Entkernung der Demokratie, zusammen, so zeigt sich, dass wir in einer Entwicklung begriffen sind, in der die maßgebenden politischen Akteure auf die Aushöhlung des demokratischen Rechtsstaats hinarbeiten. Der Einzelne kann das nicht ändern. Er kann nur fragen: Was wird an die Stelle treten? Und wem dient das Ganze?